Kern der Verunsicherung: das Archaische
„Anfang der Siebziger in Italien oder Westdeutschland geboren worden zu sein, hat unsere Generation zum wohlhabendsten, gesündesten, sichersten, am besten gekleideten und ernährten sowie verhätschelsten Stück Menschheit gemacht, das je auf Erden gewandelt ist.“ Antonio Scurati, FAZ 15.03.2020
Das Coronvirus ist Auslöser einer weltweiten Epidemie (=Pandemie), die tief in unseren Alltag eingreift und zu starker Verunsicherung führt. Zunächst besteht die Verunsicherung darin, dass man nicht weiß, wie man sich ‚richtig‘ verhalten soll. Bei einer Grippe oder anderen Krankheit geht man zum Arzt, bekommt Medikamente verschrieben und wird schlimmstenfalls zur weiteren Behandlung ins Krankenhaus überwiesen. All das trifft heute beim Coronavirus nur beschränkt zu: Nicht gleich in die Arztpraxis gehen, erst dort oder bei einer Hotline des Gesundheitsamtes anrufen, Symptome abklären, eventuell zum Test geschickt werden und dann in häusliche und – schlimmeren Falls – klinische Quarantäne zwecks Überwachung und Behandlung eingewiesen werden.
Bei „Behandlung“ muss man schon einhalten, denn es gibt noch keine erprobte Behandlung von Corona-Patienten. Bisher kann man nur Begleiterscheinungen behandeln und den Gesamtzustand stabilisieren, bis der Organismus selbständig die Virusinfektion überwunden hat. In extremen Fällen schafft es der Körper nicht (Vorerkrankungen, Alter, Schwäche), und der Organismus versagt: Der Mensch stirbt. Auch eine vorbeugende Impfung gibt es noch nicht, es wird auch noch Monate dauern, bis eine solche getestet und verlässlich angewandt werden kann. Eher kann schon auf baldige Medikamente gehofft werden, die sich bereits bei anderen Viruserkrankungen bewährt haben und gerade auf ihre Wirksamkeit bei Corona erprobt werden – in Einzelfällen auch bei uns in Deutschland.
Das öffentliche Leben ging eine Weile noch unverändert weiter. Aber spätestens seit gestern, Freitag, ist klar: Nichts wird weitergehen wie bisher. Das öffentliche Leben erfährt einen Lockdown. Alle Veranstaltungen fallen aus, Gaststätten und Clubs schließen, und manche ärgern sich immer noch, dass Bundesligaspiele und alle anderen Sportereignisse betroffen sind. Dabei ist das noch das Wenigste. Soziale Kontakte müssen reduziert bzw. ausgesetzt werden. Die Wirtschaft und Verwaltung wird massiv beeinträchtigt. Das Unverständnis vieler Menschen, warum sich nun das gesamte öffentliche Leben (Schulen, Verkehr, Freizeit, Arbeit) ändert und insofern das Alltagsverhalten eines jeden Einzelnen betroffen ist, zeigt, wie schwer es fällt, sich auf eine solche andere, außergewöhnliche Situation einzulassen, anzuerkennen, dass es anders ist als bei einer normalen Grippe, – auch wenn der Corona-Krankheitsverlauf bei vielen nur leicht ist. Aber eben nicht bei allen, sondern bei einer großen Zahl von Menschen kann er auch schwere Verläufe hervorrufen. Es sind nicht nur Ältere und Vorerkrankte betroffen, sondern Menschen quer durch alle Altersgruppen und soziale Zugehörigkeiten. Die „Bellsche Normalverteilung“ (Glockenkurve) schließt eben auch eine für Corona spezifische Verteilung des Krankheitsverlaufs ein, zu der ein bestimmter Anteil schwerer und schwerster Verläufe hinzugehört wie auch leichter und nahezu unbemerkter.
Diese prozentuale Verteilung ist dramatisch anders als bei einer herkömmlichen Virusgrippe. Und gegen die Virusgrippe haben wir Mittel und Vakzine. Bei Corona gilt das bis auf weiteres nicht. Weil wir nichts anderes haben und nichts Besseres wissen, ist Eindämmung, Unterbrechung der Infektionsketten durch Kontaktvermeidung das einzige Mittel, das medizinisch geboten ist und in politischer Verantwortung durchgesetzt werden muss – wirtschaftliche Folgen inbegriffen. Den eigenen Lebensstil kann man allerdings nur aus eigener Einsicht ändern und sozial einschränken. Das verlangt ein Stück Verständnis, Rücksichtnahme, Solidarität mit Schwächeren im Interesse der Gesamtheit. Denn es nützt allen, wenn die Ausbreitung verlangsamt und Verläufe gemildert werden.
Ich denke, es ist noch etwas anderes, das die Schwierigkeiten der Akzeptanz dieser beunruhigenden und gefährlichen Virusinfektion ausmacht: Wir sind hilflos einem Naturgeschehen ausgeliefert. Dass man nichts gegen schlimme Krankheiten tun kann, hat etwas Archaisches. Ebola hat man ziemlich schnell in den Griff gekriegt, selbst HIV ist nach längerer Zeit eine inzwischen gut therapierbare Krankheit, und auch beim Krebs gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Behandlungsmethoden, welche die Überlebenschancen ständig verbessern. Und jetzt Corona. Nichts zu machen, das Virus ist da, ist im Umlauf, viele Menschen erkranken daran. Ein Gefühl der Ohnmacht beschleicht einen – oder das Verdrängen: „Alles halb so wild, alles übertrieben!“ Bis es den Nachbarn, die Kollegin oder einen selber trifft.
Wir haben das Gefühl für die Urwüchsigkeit von Krankheiten verloren. In unserer technisierten Zivilisation gibt es gegen alles und jedes ein Mittel, ein Verfahren, einen intelligenten Ausweg. Nur hier beim Coronavirus versagt unsere Kunst. Nun, natürlich nur was die direkte Bekämpfung des Virus angeht. Die begleitende Behandlung auf den Intensivstationen ist technisch auf höchstem Niveau, hochqualifiziert und äußerst effektiv; die bisher geringen Zahlen von Toten bei uns belegen das. Die sehr viel ältere Generation, die noch das Ende des Krieges 1945, vor 75 Jahren, mitgemacht hat, kennt das Gefühl noch besser. In den ausgebombten Städten, auf der Flucht, im Flüchtlingslager ging es ums Überleben angesichts von Ruhr, Typhus, Cholera, Kinderlähmung. Da gabs keinen Notfall-Dienst, keine topmoderne Klinik. Ein Glück, dass das vorbei ist, niemand sehnt sich bei uns nach solchen Zuständen (leider ist es in den Flüchtlingslagern heute immer noch Gang und Gäbe). Aber wir müssen wieder ein Stückchen das Gefühl des Ausgeliefertseins lernen gegenüber der Tücke solch raffinierter RNA-Viren, zu denen Corona gehört: „Die Erreger der überwiegenden Mehrheit der neu auftretenden viralen Infektionskrankheiten der letzten Jahrzehnte (Variationen der Influenzaviren, SARS, Ebolavirus), aber auch die bereits jahrtausendealten Tollwut-Erreger sind RNA-Viren.“ (Wikipedia)
Gelassenheit ist angebracht, aber auch Sorge, Vorsorge und Rücksichtnahme. Kultur und Zivilisation erweisen sich immer wieder als sehr dünne Schicht, als Firnis über dem Untergrund der rohen Natur.
Update: 14.03.2020
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